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zu Politik und Recht
Eugen David
Zwischen der EU und der Ukraine existiert seit 27. Juni 2014 ein Assoziierungsabkommen. Hauptinhalt ist eine Freihandelszone auf der Basis des europäischen Binnenmarktrechts. Die Freihandelszone ist seit 1.9.2017 in Kraft.
Auf Druck aus Moskau lehnte der frühere Präsident der Ukraine, Janukowytsch, 2013 eine Unterzeichnung des Abkommens ab, was nach Bürgerprotesten seine Absetzung durch das Parlament zur Folge hatte.
Der neu gewählte Präsident Poroschenko unterzeichnete am 27. Juni 2014 das Abkommen. Im Gegenzug annektierte Putin die ukrainische Krim und löste den Sezessionskrieg im ukrainischen Donbas aus.
Seit kurzem gilt in Bern das Streitschlichtungsverfahren der Freihandelszone EU/Ukraine als Modell-Lösung für die Schweiz.
Die EU hält im Ukraine-Assoziierungsabkommen eisern am Prinzip der einheitlichen Auslegung und Anwendung des europäischen Binnenmarktrechts fest. Das Schiedsgericht muss alle Fragen, welche die Anwendung des europäischen Binnenmarktrechts betreffen dem EuGH zum Entscheid vorlegen.
Dieses Prinzip kann die EU gegenüber keinem Beteiligten am europäischen Binnenmarkt aufgeben, sei es ein Mitgliedsland oder ein Assoziierungspartner (EWR, Bilaterale oder DCFTA). Würde sie das Prinzip der einheitlichen Auslegung und Anwendung des Binnenmarktrechts aufgeben, würde der europäische Binnenmarkt nicht mehr funktionieren.
Dementsprechend bleibt der EuGH für alle Beteiligten, ob Mitglied oder nicht, die letzte massgebliche Entscheidinstanz.
Bezüglich der Rechtswirksamkeit unterscheidet sich die Ukraine-Lösung nicht von der ursprünglich vom Bundesrat favorisierten Lösung, wonach das Schweizer Bundesgericht Streitfragen betreffend das europäische Binnenmarktrecht dem EuGH zur Vorabentscheidung unterbreiten muss.
Mit seiner geänderten Verhandlungsposition vom März 2018 will der Bundesrat aus innenpolitischen Gründen den Eindruck einer formalen schweizerischen Souveränität im Binnenmarkt aufrechterhalten. Jeder simple Konflikt zwischen zwei Unternehmen über die Auslegung des Binnenmarktrechts soll zum zwischenstaatlichen Streitfall CH/EU hochstilisiert werden.
In erster und zweiter Instanz entscheiden kantonale Gerichte, ob das Binnenmarktrecht in der Schweiz korrekt angewendet wird. Ist eine Partei mit dem Ergebnis nicht einverstanden, kann sie sich an das Bundesgericht wenden. Dieses entscheidet als dritte Instanz, ob das europäische Binnenmarktrecht korrekt angewendet worden ist.
Ist ein Unternehmen nicht mit Urteil einverstanden, kommt der Streitfall vor den Gemischten Beamten-Ausschuss CH/EU.
Kommt der Gemischte Beamten-Ausschuss CH(/EU zu keinem einstimmigen Ergebnis, muss die Angelegenheit – nun als völkerrechtlicher Streitfall - dem neu zu schaffenden Schiedsgericht unterbreitet werden. Dem Schiedsgericht gehören ein Schweizer und zwei Ausländer an, wobei ein Ausländer Vorsitzender ist. „Fremde Richter“ werden hier akzeptiert.
Da es sich um eine Frage des Binnenmarktrechts handelt, muss das Schiedsgericht entsprechend dem Ukraine-Assoziierungsabkommen die Streitfrage dem EuGH zum Entscheid unterbreiten. Der Entscheid des EuGH ist für das Schiedsgericht verbindlich.
War der EuGH anderer Meinung als das Bundesgericht, muss das Schiedsgericht die Streitsache an das Bundesgericht zwecks Änderung des Urteils zurückweisen. Das Bundesgericht muss ein neues Urteil entsprechend den Vorgaben des EuGH fällen.
Danach wissen die beiden Parteien endlich, wie in der Schweiz in ihrem konkreten Fall das europäische Binnenmarktrecht anzuwenden ist. Man kann sich vorstellen, welcher Zeit- und Kostenaufwand mit diesem Verfahren verbunden ist.
Der bürokratische Aufwand über fünf Instanzen wird vom Bundesrat nur deswegen zur schweizerischen Verhandlungsposition erklärt, um innenpolitisch die Rechtsnationalen zu befriedigen. Ihnen soll die Fassade einer formalen Souveränität geboten werden, koste es was es wolle, an Zeit und Geld. Jeder banale Streitfall zum europäischen Binnenmarktrecht soll zum grossen völkerrechtlichen Konflikt zwischen der Schweiz und der EU aufgebauscht werden.
Dass Streitfälle mit diesem Verfahren von den Rechtsnationalen innenpolitisch für ihre Zwecke politisch instrumentalisiert werden, nimmt der Bundesrat in Kauf.
Das Bundesgericht müsste sich dagegen wehren, dass seine Urteile zum europäischen Binnenmarktrecht, von einem Beamten-Ausschuss und danach von einem Schiedsgericht korrigiert werden können. Auch unter dem Gesichtspunkt der Gewaltentrennung ist die Verhandlungsposition des Bundesrates zur Streiterledigung bei Binnenmarktfragen verfehlt.
In der Schweiz wird argumentiert, die Ukraine-Lösung habe „psychologische“ Vorzüge. Mit dem Schiedsgericht liege die Souveränitätsfrage weniger offen zu Tage. Diese Argumentation wiederholt die seit langem in der Schweiz geübten Taktik, die Realität der Beziehungen Schweiz-EU zu verschleiern, in der Meinung, man könne damit Risiken in Volksabstimmungen minimieren.
Der Bundesrat scheut sich, offen zu kommunizieren, dass
Die Bilateralen zementieren diese souveränitätspolitisch unvorteilhafte Lage der Schweiz. Um den Rechtsnationalen entgegen zu kommen, zieht es der Bundesrat indessen vor, die Bilateralen als „Königsweg“ zu propagieren.
Diese Art der Kommunikation gegenüber der Öffentlichkeit ist weder realitätsbezogen, noch vertrauensbildend, noch nachhaltig. Sie ist eine Hauptursache der Schwierigkeiten im Verhältnis zur EU.
Umfang und Bedeutung des europäischen Binnenmarktrechts nehmen rasant zu. Aktuellste Beispiele sind das Finanzmarktrecht und das Datenschutzrecht. Der souveräne Regelungs-Spielraum der Schweiz wird auf nationaler Ebene massiv eingeschränkt. Diese Einschränkung wird, anders als bei einem EU-Mitglied, nicht durch eine kooperative Souveränität in den europäischen Entscheid-Gremien (EU-Parlament, EU-Kommission, EU-Rat, EuGH) kompensiert. Sie schlägt vielmehr voll durch und stellt die Schweiz souveränitäts- und demokratiepolitisch deutlich schlechter als ein EU-Mitglied.
Die Schweizer Rechtsnationalen, die mit fast einem Drittel im Parlament vertreten sind, ersehnen den Zusammenbruch der Europäischen Union und die Wiederauferstehung des Nationalismus des 19. Jahrhunderts. Sie vereinigen sich in diesem Bestreben mit sektiererischen Rechtsnationalen anderer europäischer Länder. Der Nationalismus des 19. Jahrhunderts produzierte den 1. und 2. Weltkrieg. Offenbar war das nicht genug. Diese Leute wollen erneut aufs Schlachtfeld.
Der Bundesrat rennt einer Illusion nach, wenn er meint, die fundamentalen Rechtsnationalen könnten mit einer „psychologischen“ Verschleierungs-Lösung à la Ukraine-Assoziierungsabkommen besänftigt werden.
26.04.2018